Leipzig: Im Herbst fallen nicht nur die Blätter

Nach fast 2 Jah­ren un­ge­hin­der­ten Ak­ti­vi­tä­ten wird das „Freie Netz“ über­mü­tig. Wäh­rend sie sich im letz­ten Jahr mit ihren 7 Auf­mär­schen nur am Stadt­rand von Leip­zig tum­mel­ten, wol­len sie die­ses Jahr vom Leip­zi­ger Osten zum Haupt­bahn­hof zie­hen. Der Na­zi­auf­marsch soll die­ses Jahr durch die Ei­sen­bahn­stra­ße, durch Reud­nitz und somit auch am Atari, ein vor 2 Jah­ren ge­grün­de­tes lin­kes La­den­pro­jekt, vor­bei lau­fen.

Frei­es Netz, Freie Kräf­te Leip­zig und die JN

Das In­ter­net­por­tal „Frei­es Netz“ wurde 2007 als „Mit­tel­deut­sches In­fo­por­tal der frei­en Kräf­te“ von Maik Scheff­ler und Tho­mas Ger­lach ins Leben ge­ru­fen. In­zwi­schen ist es die wich­tigs­te In­ter­net­platt­form der säch­si­schen Neo­na­zi­sze­ne. Ge­glie­dert in Un­ter­sei­ten unter an­de­rem für Borna, Geit­hain, Chem­nitz, Leip­zig, Nord­sach­sen und Zwi­ckau um­fasst es alle säch­si­schen Neo­na­zi­hoch­bur­gen. Die Re­dak­ti­on der In­hal­te liegt je­weils in den Hän­den re­gio­na­ler Grup­pen. Die Web­logs die­nen vor allem der Ver­brei­tung neo­na­zis­ti­scher und an­ti­se­mi­ti­scher Pro­pa­gan­da sowie zur Mo­bi­li­sie­rung von re­gio­na­len und bun­des­wei­ten Na­zi­auf­mär­schen, in­ter­ne Be­rei­che er­mög­li­chen eine kon­spi­ra­ti­ve Kom­mu­ni­ka­ti­on. Das ge­mein­sa­me Label „Frei­es Netz“, sowie die Auf­wer­tung ein­zel­ner Kleinst­grup­pie­run­gen durch die Be­reit­stel­lung eines ei­ge­nen Web­logs führ­ten zu gro­ßer Iden­ti­fi­ka­ti­on und star­ker Ver­net­zung wei­ter Teile der Ka­me­rad­schafts­sze­ne in Sach­sen und den an­gren­zen­den Bun­des­län­dern. Das spon­ta­ne Mo­bi­li­sie­rungs­po­ten­zi­al des Frei­en Net­zes konn­te zu­letzt am 1. Mai 2009 be­ob­ach­tet wer­den: Rund 450 Neo­na­zis mar­schier­ten in Frei­berg auf und at­ta­ckier­ten die Po­li­zei und po­li­ti­sche Geg­ne­rIn­nen.
Mit den „Frei­en Kräf­ten Leip­zig“ (FKL) be­steht in Leip­zig eine Na­zi­grup­pie­rung, die über feste Struk­tu­ren ver­fügt und in über­re­gio­na­le Struk­tu­ren ein­ge­bet­tet ist. Die Mit­glie­der und Sym­pa­thi­san­ten die­ser Grup­pe neh­men nicht nur an Na­zi­auf­mär­schen im ge­sam­ten Bun­des­ge­biet teil, son­dern füh­ren auch im Leip­zi­ger Stadt­ge­biet Pro­pa­gan­da­ak­tio­nen und Ver­an­stal­tun­gen durch. Dazu ge­hö­ren Stra­ßen­thea­ter, das Um­her­wer­fen von klei­nen Zet­teln mit Pro­pa­gan­d­a­bot­schaf­ten an öf­fent­li­chen Orten, die an­lass­be­zo­ge­ne­ne Ver­tei­lung von Flug­blät­tern, Aus­flü­ge in die Natur oder zu re­gio­na­len Se­hens­wür­dig­kei­ten und eher un­be­hol­fe­ne Ver­su­che, Dis­kus­si­ons­ver­an­stal­tun­gen von Par­tei­ver­bän­den für sich zu ver­ein­nah­men. Dar­über hin­aus kommt es ver­mehrt zu Ver­su­chen, Ver­an­stal­tun­gen (po­li­ti­scher) Geg­ne­rIn­nen zu stö­ren oder an­zu­grei­fen.
Spä­tes­tens seit dem Jahr 2006 ste­hen die FKL somit für das or­ga­ni­sa­to­ri­sche und ak­tio­nis­ti­sche Er­star­ken der Leip­zi­ger Na­zi­sze­ne. Dabei ori­en­tie­ren sie sich teil­wei­se am Kon­zept der so­ge­nann­ten „Au­to­no­men Na­tio­na­lis­ten“, die sich in Auf­tre­ten und Ak­ti­ons­for­men an die linke au­to­no­me Be­we­gung an­leh­nen. Mit die­ser Or­ga­ni­sa­ti­ons­struk­tur ge­lingt es den FKL-​Ak­ti­vis­ten zu­neh­mend, brei­te­re rechts­ge­rich­te­te Per­so­nen­krei­se an­zu­spre­chen und zu po­li­ti­sie­ren.

Wie wenig au­to­nom die Leip­zi­ger Nazis al­ler­dings tat­säch­lich sind, zeigt sich je­doch daran, wie ge­treu sie Maik Scheff­lers Linie in Bezug auf die NPD fol­gen. Die­ser hatte sich im April 2008 von der NPD zu den Kreis­tags­wah­len im da­ma­li­gen Land­kreis Tor­gau-​Oschatz-​De­litzsch auf­stel­len las­sen und pro­pa­giert seit­her eine Zu­sam­men­ar­beit der „Frei­en Kräf­te“ und der NPD. Nicht zu­fäl­lig genau am 20. April 2008 grün­de­ten dann die FKL den JN-​Stütz­punkt in der Oder­mann­stra­ße. Deren Lei­ter, Tommy Nau­mann, ist auch An­mel­der der De­mons­tra­ti­on am 17.​10. und be­kann­ter FKL-​Ka­der. Daher do­ku­men­tiert die Leip­zi­ger Seite des „Frei­en Net­zes“ vor allem Ak­tio­nen der JN. Die Art und Weise, in der sich die FKL als offen, un­ab­hän­gig und re­vo­lu­tio­när ge­rier­ten, steht dabei in of­fe­nem Wi­der­spruch zur be­reit­wil­li­gen Zu­sam­men­ar­beit mit der NPD, so waren Tommy Nau­mann und 2 wei­te­re FKLer NPD-​Kan­di­da­ten bei den säch­si­schen Kom­mu­nal­wah­len 2009. Die von Scheff­ler, vor­ge­ge­be­ne Linie wird beim „Frei­en Netz Leip­zig“ als Kon­sens ver­kauft und gleich­zei­tig der Ein­druck auf­recht­er­hal­ten, die Seite wäre ein Sprach­rohr ver­schie­de­ner Strö­mun­gen in­ner­halb einer brei­ten Be­we­gung. Aber eine an­geb­li­che Ab­spal­tung exis­tiert be­reits, re­prä­sen­tiert durch einen wei­te­ren Web­log na­mens „Frei­es Leip­zig“. Ei­ni­ge Nazis aus dem Um­feld der FKL ver­su­chen auf diese Weise, un­ab­hän­gig von der NPD aktiv zu blei­ben. Je­doch be­nut­zen Nau­mann und die FKL für die De­mons­tra­ti­on am 17.​10.​2009 das selbe Post­fach, wie das „Freie Leip­zig“ auf ihrer Web­prä­senz.

Das Feind­bild, das Vor­bild und das Selbst­bild der Leip­zi­ger Nazis

Immer wie­der be­ste­hen NPD-​Ka­der, „Freie Kräf­te“ und „Au­to­no­me Na­tio­na­lis­ten“ dar­auf, die wah­ren De­mo­kra­ten zu sein: Statt der bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen „Be­völ­ke­rungs­de­mo­kra­tie“ stre­ben sie al­ler­dings eine „deut­sche Volks­de­mo­kra­tie“ an. Dabei dient die Bun­des­re­pu­blik als Feind­bild: der bür­ger­lich-​par­la­men­ta­ri­sche Rechts­staat ist für sie eine von den Sie­ger­mäch­ten des Zwei­ten Welt­krie­ges auf er­zwun­ge­ne Ord­nung mit dem Zweck, das „deut­sche Volk“ zu ver­nich­ten.
Den Neo­na­zis er­schei­nen nicht nur die eta­blier­ten Po­li­ti­ke­rIn­nen, son­dern jeder nicht-​na­tio­na­lis­ti­sche po­li­ti­sche Mensch wahl­wei­se als Mario­net­te oder als Kol­la­bo­ra­teu­rIn mit den „frem­den Mäch­ten“. Dem Ge­gen­über stel­len die Nazis ihre Vor­stel­lung von ihrem Deutsch­land und for­dern daher auch am 17.​10.​09 unter dem Motto „Recht auf Zu­kunft“ die­ses Recht für ihre Vor­stel­lun­gen ein.
Sel­ten fin­den sich kon­kre­te­re Vor­schlä­ge zum „zeit­ge­mä­ßen und volks­ge­mein­schaft­li­chen Sys­tem“; die „Frei­en Kräf­te“ de­fi­nie­ren ihre Idee eines „na­tio­na­len So­zia­lis­mus“ über das his­to­ri­sche Vor­bild des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus. Es ver­birgt sich also wenig Neues hin­ter dem „zeit­ge­mä­ßen“, näm­lich die Hoff­nung auf einen Füh­rer, auf eine ho­mo­ge­ne, am Ende alle ver­meint­li­chen Fein­de aus­schlie­ßen­de Volks­ge­mein­schaft. Es be­deu­tet nichts wei­ter als Ge­walt, näm­lich das stän­di­ge „Aus­schal­ten“ neuer „Volks­schäd­lin­ge“, wie auch die in­ten­si­ve Kam­pa­gne der FKL im letz­ten Jahr unter dem Motto: „To­des­stra­fe für Kin­des­schän­der“ zeigt. Der „un­ge­trüb­te Blick in die Ver­gan­gen­heit“ soll dabei hel­fen, das his­to­ri­sche Vor­bild als „zeit­ge­mä­ßes“ Sys­tem wie­der denk­bar zu ma­chen und die­ses dem Feind­bild Bun­des­re­pu­blik ent­ge­gen­zu­set­zen.
Dafür un­ter­schei­den Neo­na­zis in be­kann­ter Ma­nier immer wie­der zwi­schen „guten“ und „schlech­ten“ Sei­ten des NS-​Sys­tems. Hier­bei wird ver­sucht, die „schlech­ten“ Sei­ten „der Ver­gan­gen­heit“ als klei­ne „Be­triebs­un­fäl­le“ zu ver­harm­lo­sen, oder in ver­schwö­rungs­theo­re­ti­scher Ma­nier wird be­haup­tet die west­li­chen De­mo­kra­ti­en hät­ten sie her­vor­ge­ru­fen bzw. im Nach­hin­ein er­fun­den. Der Staat, re­spek­ti­ve das Volk, müsse frei sein, nicht seine Bür­ge­rIn­nen. Be­grif­fe wie Frei­heit und De­mo­kra­tie be­zie­hen sich also im NS-​Dis­kurs immer auf das Kol­lek­tiv. Die Um­deu­tung und Über­nah­me die­ser Be­grif­fe ist eine dis­kur­si­ve Stra­te­gie, um sich öf­fent­lich als frei­heit­lich und de­mo­kra­tisch zu ge­rie­ren. Da­hin­ter steht je­doch ein Me­cha­nis­mus zur Dis­zi­pli­nie­rung des In­di­vi­du­ums: die Volks­ge­mein­schaft, die einen an­geb­li­chen kol­lek­ti­ven Volks­wil­len im­pli­ziert. Das In­di­vi­du­um habe sich bei den Nazis ge­fäl­ligst in den Dienst des Volkes zu stel­len, wer das Volk ist, was für das Volk das beste sei und was es will, legen selbst­ver­ständ­lich die Nazis oder ihre „Füh­rer“ fest. In­di­vi­dua­li­tät und Ei­gen­stän­dig­keit haben in der Na­zi­ideo­lo­gie kei­nen Platz.
„Freie Kräf­te“, „Au­to­no­me Na­tio­na­lis­ten“, „Na­tio­na­le So­zia­lis­ten“, wie auch immer sie sich nen­nen: Na­zis­ti­sche Grup­pie­run­gen möch­ten mo­dern sein. Doch ihre Texte zei­gen: Sie sind es höchs­tens äu­ßer­lich. Ihre Ideo­lo­gie ent­springt dem his­to­ri­schen Vor­bild des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus.
Ihr Den­ken ist ras­sis­tisch, chau­vi­nis­tisch, au­to­ri­tär und an­ti­eman­zi­pa­to­risch. Ihre Vor­stel­lun­gen von Volk und Volks­kör­per be­deu­ten Ge­walt – gegen „äu­ße­re“ wie „in­ne­re“ Fein­de. Und dies be­kom­men ver­meint­lich Nicht-​Deut­sche, ak­ti­ve Na­zi­geg­ne­rIn­nen und an­de­re tag­täg­lich zu spü­ren.

Kri­mi­na­li­sie­rung von an­ti­fa­schis­ti­schem En­ga­ge­ment

Eine in­halt­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit Nazis ist den De­mo­kra­tIn­nen nur schwer bis gar nicht mög­lich. Dabei könn­te ihnen näm­lich auf­fal­len, dass sie viel mehr Ein­stel­lun­gen mit den Nazis ge­mein­sam haben als sie zugeben möch­ten. Aus die­sem Grund war ver­bie­ten von Na­zi­auf­mär­schen immer noch die ein­fachs­te Form, eben diese zu ver­hin­dern. Doch nicht ein­mal die Mühe will sich die Stadt Leip­zig ma­chen, ver­sucht sie doch lie­ber, die Nazis zu igno­rie­ren.
Statt­des­sen rich­tet sich das Au­gen­merk zu­neh­mend gegen an­ti­fa­schis­ti­sches En­ga­ge­ment. Als Stich­wort­ge­ber im an­ti-​an­ti­fa­schis­ti­schen Kampf fun­gie­ren in Sach­sen vor allem In­nen­mi­nis­ter But­to­lo sowie rang­ho­he Po­li­ti­ke­rIn­nen und deren wis­sen­schaft­li­che Be­ra­ter – allen voran der “Ex­tre­mis­mus­for­scher” Eckart Jesse. Mit dem Han­nah-​Arendt-​In­sti­tut für To­ta­li­ta­ris­mus­for­schung hat das Land Sach­sen zudem eine ei­ge­ne In­sti­tu­ti­on um Na­tio­nal­so­zia­lis­mus und Kom­mu­nis­mus sys­te­ma­tisch gleich­zu­set­zen. Im po­li­ti­schen Raum wird diese ideo­lo­gi­sier­te For­schungs­tä­tig­keit dann zur Ex­tre­mis­mus­theo­rie, mit­tels derer Nazis und An­ti­fa­schis­tIn­nen zu einer gleich­wer­ti­gen Be­dro­hung für die de­mo­kra­ti­sche “Mitte” der Ge­sell­schaft sti­li­siert wer­den. Mit solch einer Ar­gu­men­ta­ti­on wird das Pro­blem – die men­schen­ver­ach­ten­de Ideo­lo­gie, die sich hin­ter den Nazis ver­birgt – aus­ge­blen­det und an der Mär der “de­mo­kra­ti­schen Mitte” mit ge­strickt. Wis­sen­schaft­li­che Stu­di­en zei­gen dabei längst, dass Ras­sis­mus, An­ti­se­mi­tis­mus, Ho­mo­pho­bie und Se­xis­mus in allen Tei­len der Ge­sell­schaft ver­brei­tet sind. Eine Ein­tei­lung in “Rand” und “Mitte” ist daher nicht nur ver­kehrt und son­dern auch un­brauch­bar, lenkt diese doch von der ei­gent­li­chen Pro­ble­ma­tik ab. Die Ex­tre­mis­mus­theo­rie bleibt ein Ver­such, die Aus­ein­an­der­set­zung mit men­schen­feind­li­chen Ein­stel­lun­gen und Theo­ri­en zu um­ge­hen und all jene, die sich damit of­fen­siv be­schäf­ti­gen, zu dis­kre­di­tie­ren. Die ge­ra­de hier in Sach­sen an­ge­führ­te Gleich­set­zung von An­ti­fa­schis­tIn­nen und Nazis ist ein Schlag ins Ge­sicht aller Opfer rech­ter Ge­walt, ins­be­son­de­re ein Schlag ins Ge­sicht der Op­fern der deut­schen Ver­bre­chen wäh­rend des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus.

Am 17.​10 wer­den wir den Nazis ganz per­sön­lich zei­gen, dass die An­ti­fa noch lange nicht weg ist und es immer noch kei­nen Spaß macht auf der Stra­ße sei­nen Ge­dan­ken­schrott los zu wer­den.
Also kommt nach Leip­zig, seid aktiv, helft mit den Tag zur Nacht zu ma­chen und den Nazis die schlimms­ten Alb­träu­me zu be­sche­ren.

Na­zi­auf­marsch zum De­sas­ter ma­chen!
Wer Deutsch­land liebt, den kön­nen wir nur has­sen!