Von Plauen nach Gera! Antifa bleibt Landarbeit… und alles andere auch.

Flyer_Vorderseite

Am 10.09.2016 wird unter dem Motto „Antifa bleibt Landarbeit“ zu einer Demonstration in die ostdeutsche Provinzstadt Gera aufgerufen – ins viel beschworene Hinterland. Der Aufruf sowie die herausgegebenen Texte sind Demoaufruf, Hilfeschrei und der Versuch, eine längst überfällige Debatte anzustoßen in einem. Herausgegeben von den letzten, völlig erschöpften Antifaschist_innen der Provinz, die hier allen ernstes noch leben und seit Jahren unermüdlich gegen die Windmühlenflügel dieser schrecklichen Normalität ankämpfen.

An vielen Punkten haben die Geraer Texte recht gut die Besonderheiten der Provinz und der politischen Arbeit dort herausgearbeitet und zu erklären versucht. Erklärt einer städtischen, akademischen Linken, deren Wissen über die Provinz zu großen Teilen aus Mythen, Vorurteilen und der willfähigen Übernahme bürgerlich-chauvinistischer Erklärungsmuster zu bestehen scheint oder die einfach vor der Frage kapituliert, warum es in diesem Hinterland so viele Nazis, Rechte und, mit diesen einhergehende, Übergriffe und Pogrome gibt. Dabei ist die Antwort doch ziemlich einfach: Weil hier keine (kaum) linke Politik gemacht wird, der Bevölkerung keine progressiven Alternativen geboten werden.

Warum aber wird hier keine linke Politik gemacht, wird das Hinterland als potentielles Kampfgebiet linker Bewegungen regelmäßig vergessen oder unterschlagen? Sind hier die gesellschaftlichen Widersprüche und Herrschaftsideologien andere, ihre Wirkung geringer, oder die Möglichkeiten linker Politik? Weder noch! Der Grund scheint vielmehr eine gesamt-linke, besorgniserregende Rückzugs- und Kapitulationsdynamik. Eine Tendenz, sich beschauliche Schneckenhäuser zu suchen, in die man sich bei jeder ungeplanten Berührung mit der Realität zurückzieht, anstatt sich der Realität, den Lebensverhältnissen zu stellen. Und die Beschissenheit dieser Lebensverhältnisse erschöpft sich auch in der Provinz nicht in der Existenz von Neonazis und Rassist_innen.

Auch hier ist Lohnarbeit scheiße, in vielem sogar besonders scheiße. Die nach der Wende (weitgehende) Deindustrialisierung ganzer Landstriche hat zu hoher Arbeitslosigkeit, viel stärker aber noch zum Aufblühen prekärer Beschäftigungsverhältnisse und einer massiven Landflucht geführt. Zurückgeblieben sind die, die sich nicht schnell und gut genug an die neuen Verhältnisse anpassen konnten, weil sie zu alt oder noch zu wenig neoliberal indoktriniert waren, um sich schnell genug selbst zu optimieren, einen neuen Job zu finden und eine Wohnung in den glitzernden (West-)Metropolen zu ergattern. Sie müssen jetzt hier leben in diesem sterbenden, überalterten Hinterland mit seiner ganzen Tristesse. Die letzten Kultureinrichtungen kämpfen mit immer neuen Einsparungen oder geben auf. Eine völlig abgehängte und aufgegebene Jugend, die diese Realität durch massiv um sich greifenden, Crystal-Konsum zu ertragen versucht. Cops, die in diese Geschäfte verwickelt sind und gleichzeitig die völlig fertigen Konsument_innen jagen. Viel zu wenige Sozialarbeiter_innen und Streetworker_innen, denen man die Mittel kürzt und sie mit den Problemen weitest gehend allein lässt. Die wenigen verstreuten Provinz-AZs sind oftmals die einzigen Anlaufpunkte und Kultureinrichtungen für die Jugendlichen, die nicht bei den Nazis gelandet sind, sich völlig abschießen oder eben aus Frustration wegziehen. Kurzum, die soziale, kulturelle und ökonomische Armut, von der so viele Menschen in den ostdeutschen Provinzen betroffen sind – und die dementsprechend als potentielle Verbündete einer linken Bewegung betrachtet werden müssen – macht Thematisierung und Intervention dringend erforderlich. Solche Kämpfe wären zudem befähigt, den Diskurs weg von einem über Geflüchtete, hin zu einem über die Lebensbedingungen unserer Klasse, der die der Geflüchteten mit einschließt, zu verändern.

Queere Provinzen?!

Trans- und Homofeindlichkeit sind typische Probleme der Provinz – heißt es. In den aufgeklärten, weltoffenen Metropolen käme so etwas nicht vor. Dass das ein Irrtum ist, wissen die meisten dort lebenden Queers selbst. Was Stadt und Land diesbezüglich wirklich unterscheidet, ist das Vorhandensein einer Szene und einiger weniger politischer Gruppen.

Und wieder offenbart sich selbige Dynamik: Die hier lebenden LGBTI ’s haben hier keine Lobby und finden keine Verbündeten, die bereit sind mit ihnen gegen die Angriffe, Übergriffe und das erstickende heteronormative Klima anzukämpfen, für gelebte Diversität im Hinterland zu streiten. Selbst viele queere Genoss_innen kehren so früher oder später frustriert der Provinz den Rücken, gehen in die Städte, wo es zwar genauso Trans-, Homofeindlichkeit und heterosexistische Privilegien gibt, man sich davon in seiner Szene aber viel besser abschotten kann.

Ähnlich beim Feminismus: junge, gebildete Frauen* und Feminist_innen sind berechtigter Weise von den herrschenden, patriarchalen Verhältnissen, die widerstandslos hingenommen, zumeist gar nicht – oft nicht einmal in der linken Szene – thematisiert werden, genervt und kehren der Provinz den Rücken. In der Stadt, angekommen in der feministischen Szene, gehen sie dann auf FLTI* Partys, verkehren ausschließlich mit ihnen Gleichen und beschränken ihre politische Aktivität dementsprechend und konsequenter Weise auf Identitätspolitik und die Frage welche Form des genderns mehr Menschen einschließt, progressiver ist. So nachvollziehbar dieser Move auch ist, er lässt vor allem jene im Stich, die am stärksten unter den patriarchalen Machtverhältnissen zu leiden haben und die der intellektuellen und rhetorischen Schlagkraft jener feministischen Akademiker_innen so dringend bedürften: Die alleinerziehende Minijobberin, die lesbische Geflüchtete, die Kassiererin bei Aldi – die Zuhause verdroschen wird, die Prostituierte im deutsch-tschechischen Grenzgebiet, die Transfrau mit Doppelleben. Übertragbar auf alle anderen Kämpfe, verweigert die Linke diesen Menschen die Zusammenarbeit, einzig weil sie aus anderen Lebenswirklichkeiten, anderen sozialen Schichten und Milieus kommen, und ihre Lebensrealitäten unsere Theorien auf ihre Tauglichkeit prüfen würden.

Die linke Bewegung vernachlässigt seit Jahren existentielle Themen und wundert sich im Nachgang, dass diese (in reaktionärer, menschenverachtender Weise) von Rechten und Nazis besetzt werden. Wir erzählen den Betroffenen nichts von unseren klugen Theorien, die ihre missliche Lage erklären können, emanzipatorische Perspektiven aufzeigen und echauffieren uns, wenn diese dann auf den Bockmist der Rechten reinfallen, sich gegeneinander ausspielen lassen – was nebenbei gesagt gar nicht so häufig vorkommt. Denn auch wenn so mancher möchtegern-linke Flyer uns das weiß machen möchte, sind es häufig eben nicht die „Ronnys und Mandys aus dem Plattenbauviertel“1 die die rassistischen, nationalistischen und reaktionären Mobilmachungen tragen, sondern viel eher entstammen diese „angry, white men“ einer kleinbürgerlichen, im ökonomischen Abwärtstrend begriffenen Schicht, die sich mit aller Macht an ihre alten Privilegien klammert – und um Gottes Willen nichts gemein haben will mit Ronny und Mandy, erst recht nicht mit Ahmed und Fatima. Eine Schicht, die schon immer sehr empfänglich für faschistische Erklärungsmuster war und unter den gegebenen politischen Machtverhältnissen, statt gemeinsame Interessen zu erkennen, sich zu solidarisieren, lieber AfD wählt – also konsequent nach unten tretend ihren eigenen Untergang noch befeuert.

Zurück zur Ausgangsfrage, warum nun die Verhältnisse in der Provinz sind wie sie eben sind, lässt sich konstatieren, dass es eben nicht die verschiedenen Ausgangspunkte sind, die eben jene Verhältnisse in der Provinz herstellen, sondern diese nur als Teil einer verderblichen Dynamik verstanden werden können, die sukzessiv die linke Bewegung zur zersplitterten Szene verkommen lässt. Eine Linke die Kämpfe verbinden will, Kämpfenden aber nicht zuhört – die eigentlich das schöne Leben für alle will, aber überhaupt keine Berührung mehr mit den tatsächlich Lebensverhältnissen vieler Betroffener hat und teilweise nicht einmal mehr in ihrem Denken von den tatsächlichen Lebensverhältnissen ausgeht.

Diese Dynamik gilt es zu durchbrechen und die Möglichkeiten dafür sind hier nicht die schlechtesten – die Vorteile der Provinz für politische Arbeit wurde in dem Text „Stadt, Land Fluss verteidigen“ der Geraer Genoss_innen schon ausreichend dargelegt. Es gilt, hier wie in den Städten, endlich wieder eine schlagkräftige, aber vor allem eine pluralistische Linke aufzubauen. Eine Linke, die Betroffene von Ausbeutung und Unterdrückung als bereits Kämpfende wahrnimmt, mit denen es sich – auf Augenhöhe – zu vernetzen gilt, mit denen man Wissen und Fähigkeiten teilt.

Die Demo in Gera ist wichtig. Sie ist ein Akt der Solidarität, die den dort verbliebenen Genoss_innen den Rücken stärkt, sie animiert weiter zu machen. Darüber hinaus müssen wir wieder Bewegung werden, müssen wir unser Denken wieder in den Dienst der Unterdrückten stellen. Kurz wieder linke Politik für die und mit denen machen, die den Zumutungen von Staat, Nation, Kapital und Patriarchat so grausam ausgeliefert sind.

Dazu ist es als erstes notwendig, diesen Menschen zuzuhören, ja sie erst einmal kennen zu lernen, die Not sich wieder – wortwörtlich – vor Augen zu führen, um dann evtl. gemeinsam kämpfen zu können. Ein schwieriger Weg, aber alle mal Erfolg versprechender, als protektionistische „Strafexpeditionen“ ins unterbelichtete Hinterland zu organisieren.
Die antifaschistischen Gruppen des Vogtlands (AGV)
antifavogtland.blogsport.eu

Gera 10.09.: landarbeit.blogsport.de

1Zitat aus einem „Antifa-Flyer“